Agamemnon und Iphigenia                                                                                   zurück
- Teil 1 -

Während nun die Flotte zu Aulis sich versammelte, vertrieb der Völkerfürst Agamemnon sich die Zeit mit der Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hindin in den Schuß, die der Göttin Artemis geheiligt war. Die Jagdlust verführte den Fürsten: er schoß nach dem heiligen Wild und erlegte es mit dem prahlenden Worte, Artemis selbst, die Göttin der Jagd, vermöge nicht besser zu treffen. Über diesen Frevel erbittert, schickte die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüstet mit Schiffen, Roß und Wagen beisammen war und der Seezug nun vor sich gehen sollte, dem versammelten Heere tiefe Windstille zu, so daß man ohne Ziel und Fahrt müßig in Aulis sitzen mußte. Die ratsbedürftigen Griechen wandten sich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Thestor, welcher dem Volke schon früher wesentliche Dienste geleistet hatte und jetzt erschienen war, als Priester und Wahrsager den Feldzug mitzumachen. Dieser tat auch jetzt den Ausspruch: »Wenn der oberste Führer der Griechen, der Fürst Agememnon, Iphigenia, sein und Klytämnestras geliebtes Kind, der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt sein, Fahrwind wird kommen, und der Zerstörung Trojas wird kein übernatürliches Hindernis mehr im Wege stehen.«

Diese Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Mut. Sogleich beschied er den Herold der versammelten Griechen, Talthybios aus Sparta, zu sich und ließ denselben mit hellem Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechische Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf sein Gewissen laden wolle. Aber unter den versammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieses Entschlusses eine wilde Empörung auszubrechen. Menelaos begab sich mit dieser Schreckensnachricht zu seinem Bruder in das Feldherrnzelt, stellte ihm die Folgen seiner Entschließung, die Schmach, die ihn, den Menelaos, treffen würde, wenn sein geraubtes Weib Helena in Feindeshänden bleiben sollte, vor und bot so beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon sich entschloß, den Greuel geschehen zu lassen. Er sandte an seine Gemahlin Klytämnestra nach Mykene eine briefliche Botschaft, welche ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu senden, und bediente sich, um diesem Gebote Gehorsam zu verschaffen, des in der Not erdichteten Vorwandes, die Tochter solle, noch bevor das Heer der trojanischen Küste zusegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herrlichen Phthierfürsten Achill, von dessen geheimer Vermählung mit Deïdameia niemand wußte, verlobt werden. Kaum aber war der Bote fort, so bekam in Agamemnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten Entschluß, rief er noch in der Nacht einen alten vertrauten Diener und übergab ihm einen Brief an seine Gemahlin Klytämnestra zur Bestellung; in diesem stand geschrieben, sie sollte die Tochter nicht nach Aulis schicken, er, der Vater, habe sich eines andern besonnen, die Vermählung müsse bis aufs nächste Frühjahr aufgeschoben werden. Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er erreichte sein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgendämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaos, dem die Unschlüssigkeit des Bruders nicht entgangen war, der ebendeswegen alle seine Schritte überwacht hatte, ergriffen, der Brief ihm mit Gewalt entrissen und sofort von dem jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand, trat Menelaos abermals in das Feldherrnzelt des Bruders. »Es gibt doch«, rief er ihm unwillig entgegen, »nichts Ungerechteres und Ungetreueres als den Wankelmut! Erinnerst du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begierig du nach dieser Feldherrnwürde strebtest, wie du vor übel verheimlichter Lust branntest, das Heer vor Troja zu führen? wie demütig du dich da gegen alle griechischen Fürsten gebärdetest, wie gnädig du jedem Danaer die Rechte schütteltest? Deine Tür war stets unverschlossen; jedem, auch dem Untersten des Volkes, schenktest du Zutritt, und alle diese Geschmeidigkeit bezweckte nichts anderes, als dir jene Würde zu verschaffen. Aber als du nun Herr geworden warest, da war alles bald anders; da warst du nicht mehr deiner alten Freunde Freund wie vorher; zu Hause warst du schwer zu treffen, draußen bei dem Heere zeigtest du dich nur selten. So sollte es ein Ehrenmann nicht machen; er sollte am meisten dann sich unveränderlich gegen seine Freunde zeigen, wenn er ihnen am meisten nützen kann! Du hingegen, wie hast du dich betragen? Als du mit dem Griechenheere nach Aulis gekommen warest und, vom göttlichen Geschicke heimgesucht, vergebens auf Fahrwind hofftest und nun im Heere rings der Ruf sich hören ließ: ›Laßt uns davonsegeln und nicht vergebens in Aulis uns abmühen!‹, wie zerstört und trostlos blickte da dein Auge umher und wie wußtest du mitsamt deinen Schiffen keinen Rat! Damals beriefst du mich und verlangtest nach einem Auswege, deine schöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als hierauf der Seher Kalchas befahl, anstatt eines Opfers der Artemis deine Tochter darzubringen, da gelobtest du nach kurzem Zuspruche freiwillig deines Kindes Opferung und schicktest Botschaft an dein Weib Klytämnestra, deine Tochter, wie du angabst, als Braut des Achill, herzusenden. Und jetzt, o Schande, beugst du doch wieder aus und verfassest eine neue Schrift, durch welche du erklärst, des Kindes Mörder nicht werden zu können? Aber freilich, tausend andern ist es schon so gegangen wie dir. Rastlos, bis sie ans Ruder gelangt sind, treten sie später schimpflich zurück, wenn es gilt, das Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der nicht Einsicht und Verstand hat und dieselben auch in den schwierigsten Lagen des Lebens nicht verliert!«

Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen. »Was schnaubst du so schrecklich«, entgegnete er ihm, »was ist dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt dich denn? Was vermissest du denn? Deine liebenswürdige Gattin Helena? Ich kann sie dir nicht wieder verschaffen! Warum hast du deines Eigentums nicht besser wahrgenommen? Bin ich denn töricht, wenn ich einen Mißgriff durch Besinnung wiedergutgemacht habe? Viel eher handelst du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falschen Weibes trachtest, anstatt daß du froh sein solltest, ihrer losgeworden zu sein. Nein, nimmermehr entschließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüten. Weit besser stände dir selbst die gerechte Züchtigung deines buhlerischen Weibes an.«

So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erschien und dem Fürsten Agamemnon die Ankunft seiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und sein kleiner Sohn Orestes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte der Bote sich wieder entfernt, so überließ sich Agamemnon einer so trostlosen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaos selbst, der bei Ankunft der Botschaft auf die Seite getreten war, jetzt sich dem Bruder wieder näherte und nach seiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte sie ihm wehmütig dar und sprach unter heißen Tränen: »Da hast du sie, Bruder; der Sieg ist dein! Ich bin vernichtet!« Menelaos dagegen schwor ihm, von der alten Forderung abstehen zu wollen; ja er ermahnte ihn selbst jetzt, sein Kind nicht zu töten, und erklärte einen guten Bruder um Helenas willen nicht verderben und nicht verlieren zu wollen. »Bade doch dein Angesicht nicht länger in Tränen«, rief er. »Gibt der Götterspruch mir Anteil an deiner Tochter, so wisse, daß ich denselben ausschlage und meinen Teil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemütsart umgekehrt bin zur Bruderliebe; denn biedern Mannes Weise ist es, der bessern Überzeugung zu folgen, sobald sie in unserm Herzen die Oberhand gewinnt!«

Agamemnon warf sich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geschick seiner Tochter beruhigt zu sein. »Ich danke dir«, sprach er, »lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder zusammengeführt hat. Über mich aber hat das Schicksal entschieden. Der blutige Tod der Tochter muß vollzogen sein: das ganze Griechenland verlangt ihn; Kalchas und der schlaue Odysseus sind einverstanden; sie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein Töchterlein abschlachten lassen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, sie kämen und rissen uns aus den Mauern hervor und schleiften die alte Zyklopenstadt! Deswegen beschränke dich darauf, Bruder, wenn du in das Lager kommst, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämnestra nichts erfahre, bis daß mein und ihr Kind dem Orakelspruch erlegen ist!«

Die herannahenden Frauen unterbrachen das Gespräch der Brüder, und Menelaos entfernte sich in trüben Gedanken.

Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite frostig und verlegen; die Tochter aber umschlang den Vater mit kindlicher Zuversicht und rief. »O Vater, wie entzückt mich dein lang entbehrtes Angesicht!« Als sie ihm hierauf näher in sein sorgenvolles Auge sah, fragte sie zutraulich: »Warum ist dein Blick so unruhig, Vater, wenn du mich doch gerne siehst?« »Laß das, Töchterchen«, erwiderte der Fürst mit beklommenem Herzen; »den König und den Fürsten kümmert gar vielerlei!« »So verbanne doch diese Furchen«, sprach Iphigenia, »und schlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf! Warum ist es denn so von Tränen angefeuchtet?« »Weil uns eine lange Trennung bevorsteht«, erwiderte der Vater. »O wie glücklich wäre ich«, rief das Mädchen, »wenn ich deine Schiffsgefährtin sein dürfte!« »Nun, auch du wirst eine Fahrt anzutreten haben«, sagte Agamemnon ernst, »zuvor aber opfern wir noch ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirst, liebe Tochter!« Die letzten Worte erstickten unter Tränen, und er schickte das ahnungslose Kind in das für sie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter mußte der Atride seine Unwahrheit fortsetzen und die fragende, neugierige Fürstin über Geschlecht und Verhältnisse des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem sich Agamemnon von der Gemahlin losgemacht, begab er sich zu dem Seher Kalchas, um mit diesem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu verabreden.

Derweilen mußte der tückische Zufall Klytämnestra im Lager mit dem jungen Fürsten Achill, der den Heerführer Agamemnon aufsuchte, weil seine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen wollten, zusammenführen, und sie nahm keinen Anstand, ihn als den künftigen Eidam mit freundlichen Worten zu begrüßen. Aber Achill trat verwundert zurück. »Von welcher Hochzeit redest du, Fürstin?« sprach er. »Niemals habe ich um dein Kind gefreit, nie ist ein Einladungswort zur Vermählung von deinem Gemahl Agamemnon an mich gelangt!« So begann das Truggewebe vor Klytämnestras Augen aufgedeckt zu werden, und sie stand unentschlossen und voll Beschämung vor Achill. Dieser aber sagte mit jugendlicher Gutmütigkeit: »Laß dich's nicht kümmern, Königin; wenn auch jemand seinen Scherz mit dir getrieben hätte, nimm es leicht, und verzeih mir, wenn mein Erstaunen dir wehe getan hat.« Und so wollte er mit ehrerbietigem Gruße davoneilen, den Feldherrn aufzusuchen: da öffnete eben ein Diener das Zelt Agamemnons und rief mit verstörter Miene den beiden Sprechenden entgegen; es war der vertraute Sklave Agamemnons und Klytämnestras, den Menelaos mit dem Briefe ergriffen hatte. »Höre«, sprach er leise, doch atemlos, »was dir dein treuer Diener zu vertrauen hat: deine Tochter will der Vater eigenhändig töten!« Und nun erfuhr die zitternde Mutter das ganze Geheimnis aus dem Munde des getreuen Sklaven. Klytämnestra warf sich dem jungen Sohne des Peleus zu Füßen, und seine Knie wie eine Schutzflehende umfassend, rief sie: »Ich erröte nicht, so vor dir im Staube zu liegen, ich, die Sterbliche, vor dem Göttersprößling. Weiche, Stolz, vor der Mutterpflicht! Du aber, o Sohn der Göttin, rette mich und mein Kind von der Verzweiflung! Dir, als ihrem Gatten, habe ich sie bekränzt hierhergeführt; zwar eitlerweise, dennoch heißest du mir meines Mädchens Bräutigam! Bei allem, was dir teuer ist, bei deiner göttlichen Mutter beschwöre ich dich, hilf sie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten könnte, als deine Knie! Du hast Agamemnons grausames Unterfangen gehört; du siehest, wie ich, ein wehrloses Weib, in die Mitte eines gewalttätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, so ist uns geholfen!«

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