Agamemnon und Iphigenia
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- Teil 2 -
Achill hob die vor ihm liegende Königin voll Ehrfurcht vom Boden
und sprach: »Sei getrost, Fürstin! Ich bin in eines frommen,
hilfreichen Mannes Haus aufgezogen worden; am Herde Chirons habe ich schlichte,
redliche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne,
wenn sie mich zum Ruhme führen; aber schnödem Befehle gehorche
ich nicht. Darum will ich dich schützen, soweit es den Armen eines
Jünglings möglich ist, und nimmermehr soll deine Tochter, die
einmal mein genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich selbst
erschiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene Brautschaft dieses Kind
verdürbe, ich käme mir wie der feigste Wicht im Heere und wie
der Sohn eines Missetäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vorwand
eines Kindesmordes dienen könnte.« »Ist das wirklich dein
Wille, edler, mitleidiger Fürst«, rief Klytämnestra, außer
sich vor Freude, »oder erwartest du vielleicht noch, daß auch
meine Tochter deine Knie als Schutzflehende umschlingen soll? Zwar ist es
nicht jungfräulich; aber wenn es dir gefällt, so wird sie züchtiglich
nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.« »Nein«, entgegnete
ihr Achill, »führe dein Mädchen nicht vor mein Angesicht,
damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn ein so großes
Heer, das keine Heimatsorgen hat, liebt faules Geschwätz; aber vertraue
mir, ich habe nie gelogen. Möge ich selbst sterben, wenn ich dein Kind
nicht rette.« Mit dieser Versicherung verließ der Sohn des Peleus
Iphigenias Mutter, die jetzt mit unverhehltem Abscheu vor ihren Gatten Agamemnon
trat. Dieser, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheimnis
verraten war, rief ihr die zweideutigen Worte entgegen: »Entlaß
jetzt dein Kind aus dem Zelte und übergib es dem Vater, denn Mehl und
Wasser und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfest fallen soll,
alles ist schon bereit.« »Vortrefflich«, rief Klytämnestra,
und ihr Auge funkelte, »tritt selbst aus unserem Zelte hervor, o Tochter,
du kennst ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen
Bruder Orestes mit heraus!« Und als die Tochter erschienen war, fuhr
sie fort: »Siehe, Vater, hier steht sie dir zu Gehorsam da, laß
auch mich zuvor ein Wort an dich richten: sage mir ohne Winkelzüge,
willst du meine und deine Tochter umbringen?« Lange stand der Feldherr
lautlos da, endlich rief er in Verzweiflung aus: »O mein Schicksal,
mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein Geheimnis, alles ist verloren!«
»So höre mich denn«, sprach Klytämnestra weiter; »ich
will mein ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat
unsre Ehe begonnen; du hast mich gewaltsam entführt, hast meinen früheren
Gatten erschlagen, mein Kind mir von der Brust genommen und getötet.
Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Rossen mit Heeresmacht
gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareos war es, der dich, den Flehenden,
rettete, und so wurdest du aufs neue mein Gemahl. Du selbst wirst es bezeugen,
daß ich tadellos in diesem Ehebunde war, deine Wonne im Hause und dein
Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe ich dir geboren,
und nun willst du des ältesten Kindes mich berauben; und fragt man dich,
warum, so antwortest du: damit dem Menelaos seine Ehebrecherin wieder zuteil
werde! O zwinge mich nicht, bei den Göttern, schlecht gegen dich zu werden,
und sei nicht schlecht gegen mich! Du willst deine Tochter opfern? Welch
Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen?
Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von
Hause wegziehst? Oder soll ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte
ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es täte!
Warum soll es denn dein eigenes Kind sein, das als Opfer fällt? Warum
sprichst du nicht zu den Griechen: ›Wenn ihr vor Troja schiffen wollet, so
werfet das Los darüber, wessen Tochter sterben soll.‹ Nun soll ich,
deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, dessen Sache ausgefochten
wird, Menelaos, seiner Tochter Hermione sich ohne Sorgen erfreuen darf, während
seine treulose Gattin dieses Kind in Spartas Pflege geborgen weiß!
Antworte, ob ich ein einziges ungerechtes Wort gesagt habe. Ward aber von
mir die Wahrheit gesprochen, o so töte doch deine und meine Tochter
nicht; tu es nicht, besinne dich!«
Jetzt warf sich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und
sprach mit erstickter Stimme: »Besäße ich den Zaubermund
des Orpheus, o Vater, daß ich Felsen lenken könnte, so wollte
ich mich mit beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle
meine Künste nur Tränen, und anstatt des Ölzweigs umflechte
ich dein Knie mit meinem Leibe. Verdirb mich nicht frühzeitig, Vater;
lieblich ist das Licht zu schauen, nötige mich nicht, das zu sehen,
was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner Liebkosungen, mit welchen du mich
als Kind auf deinem Vaterschoße gewiegt hast! Noch weiß ich alle
deine Reden: wie du hofftest, mich in eines edlen Mannes Wohnung einzuführen,
mich in Wohlergehen und Blüte zu schauen, wenn du heimgekehrt wärest.
Du aber hast das alles vergessen; du willst mich töten! O tu es nicht,
bei dieser Mutter beschwöre ich dich, die mich mit Schmerzen geboren
hat und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen
mich Helena und Paris an? Warum muß ich sterben, weil er nach Griechenland
gekommen ist? O blicke mich an; gönne mir dein Auge, deinen Kuß,
daß ich doch sterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich
mein Wort nicht mehr zu rühren vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder,
an, Vater; schweigend fleht er für mich. Er ist noch ein Küchlein;
ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen und erbarme
dich meiner. Das Licht zu schauen ist für Sterbliche doch das Holdseligste!
Elend leben ist besser als der allerschönste Tod.«
Aber Agamemnons Entschluß war gefaßt, er stand unerbittlich
wie ein Fels und sprach: »Wo ich Mitleid fühlen darf, da fühle
ich Mitleid; denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja sonst ein Rasender.
Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus, aber
ich muß. Ihr sehet ja, welch ein Schiffsheer mich umringt, wie viele
Fürsten im Kriegspanzer mich umstehen; diese alle finden die Fahrt nach
Troja nicht, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind,
nach dem Ausspruche des Sehers. Diese Helden alle wollen den Entführungen
der Griechenfrauen ein Ziel stecken; sie sind es fest entschlossen; und bekämpft'
ich nun diesen Götterspruch, so mordeten sie euch und mich. Hier hat
meine Macht eine Grenze; nicht meinem Bruder Menelaos, sondern ganz Griechenland
weiche ich.«
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte sich der König und ließ
die jammernden Frauen allein in seinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm
vor diesem. »Es ist Achill«, rief Klytämnestra freudig.
Vergebens suchte sich Iphigenia in tiefer Beschämung vor dem erheuchelten
Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten
begleitet, hastig in das Zelt: »Unglückliche Tochter Ledas«,
rief er, »das ganze Lager ist im Aufruhr und verlangt den Tod deiner
Tochter; ich selbst, der mich dem Geschrei widersetzte, wäre fast gesteiniget
worden.« »Und deine Myrmidonen?« fragte Klytämnestra
mit stockendem Atem. »Die empörten sich zuerst«, fuhr Achill
fort, »und schalten mich einen liebeskranken Schwätzer. Mit diesem
treuen Häuflein hier komme ich, euch gegen den anrückenden Odysseus
zu verteidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib soll euch
decken, ich will sehen, ob sie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen,
von dessen Leben das Schicksal Trojas abhängt.« Diese letzten
Worte, die einen Schimmer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den Atem
wieder.
Jetzt aber machte sich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt
auf und stellte sich mit entschlossenen Schritten vor die Königin und
den Fürsten: »Höret meine Reden an!« sprach sie mit
einer Stimme, die alles Zittern verloren hatte, »vergebens, liebe Mutter,
zürnst du deinem Gatten; er kann sich nicht gegen das Notwendige stemmen.
Alles Lob verdient der Eifer dieses Fremdlings, aber er wird es büßen
müssen, und du wirst gelästert werden. Höret deswegen den
Entschluß, den mir die Überlegung eingegeben hat. Ich habe beschlossen
zu sterben; ich verbanne jede niedrige Regung aus meiner freien Brust und
will es vollenden. Auf mir ruht jetzt jedes Auge des herrlichen Griechenlands,
auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Trojas, auf mir die Ehre der griechischen
Frauen. Alles dieses werde ich mit meinem Tode schirmen; mit Ruhm wird sich
mein Name bedecken; die Befreierin Griechenlands werde ich heißen.
Soll ich, eine Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten, weil
es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu verlangen? Nein,
ich gebe es willig dahin; opfert mich, zerstöret Troja, das wird mein
Denkmal sein und mein Hochzeitsfest.«
Mit leuchtendem Blicke, wie eine Göttin, stand Iphigenia vor der
Mutter und dem Peliden, während sie also sprach. Da senkte sich der
herrliche Jüngling Achill vor ihr auf ein Knie und rief.»Kind
Agamemnons! die Götter machten mich zum glückseligsten Menschen,
wenn mir deine Hand zuteil würde. Um dich beneide ich Griechenland,
und um Griechenland, das dir angetrauet ist, dich. Liebessehnsucht ergreift
mich nach dir, du Herrliche, nun ich dein Wesen geschaut habe. Erwäg
es wohl! Der Tod ist ein schreckliches Übel, ich aber möchte dir
gern Gutes tun, möchte dich heimführen zum Leben und Glück!«
Lächelnd erwiderte ihm Iphigenia: »Männerkrieg und Mord genug
hat Frauenschönheit durch die Tyndaridin angeregt, mein lieber Freund;
stirb nicht auch du für ein Weib, noch töte jemand um meinetwillen.
Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es vermag!« »Erhabene
Seele«, rief der Pelide, »tue, was dir gefällt, ich aber
eile mit diesen meinen Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner
Unbesonnenheit darfst du mir nicht sterben, vielleicht nimmst du mich noch
beim Worte, wenn du den Mordstahl auf deinen Nacken gezückt siehst.«
So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend
und ihr den kleinen Bruder Orestes auf die Arme legend, im beseligenden Bewußtsein,
das Vaterland zu retten, dem Tode freudig entgegenging. Die Mutter warf sich
im Zelt auf ihr Angesicht und vermochte nicht, ihr zu folgen.
Unterdessen versammelte sich die ganze griechische Heeresmacht in dem
blumenreichen Haine der Göttin Athene vor der Stadt Aulis. Der Altar
war errichtet, und neben ihm stand der Seher und Priester Kalchas. Ein Ruf
des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenia, von
ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon
zuwandeln sah. Dieser seufzte laut auf, wandte sein Angesicht zurück
und verbarg einen Tränenstrom in sein Gewand. Die Jungfrau aber stellte
sich dem Vater zur Seite und sprach: »Lieber Vater, siehe, hier bin
ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es
der Götterspruch so gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer fürs
Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich seid und mit Siegeslohn
zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver; mutig und
still will ich den Nacken dem Opferstahle bieten!«
Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es Zeuge solchen Hochsinnes
ward. Nun gebot Talthybios, der Herold, in der Mitte stehend, Stillschweigen
und Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken schneidenden Stahl aus
der Seite und legte ihn vor dem Altar in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt
trat Achill in voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte
vor den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch seinen Entschluß.
Er warf das Schwert auf die Erde, besprengte den Altar mit Weihwasser, ergriff
den Opferkorb, umwandelte den Festaltar wie ein Priester und sprach: »O
hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige, freiwillige Opfer, das unbefleckte
Blut des schönen Jungfrauennackens, das Agamemnon und Griechenland dir
jetzo weiht, gnädig an, gib unsern Schiffen glückliche Fahrt und
Trojas Sturz unsern Speeren!« Die Atriden und das ganze Heer standen
stumm zur Erde blickend. Der Priester Kalchas nahm seinen Stahl, betete und
faßte die Kehle der Jungfrau scharf ins Auge. Deutlich hörte man
den Fall seines Schlages. Aber o Wunder, in demselben Augenblicke war die
Jungfrau aus den Augen des Heeres verschwunden. Artemis hatte sich ihrer
erbarmt, und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher Gestalt lag zappelnd
auf dem Boden und besprengte mit reichlichem Opferblute den Altar. »Ihr
Führer des vereinten Griechenheeres«, rief Kalchas, nachdem er
sich von seinem freudigen Staunen erholt hatte, »sehet hier das Opfer,
welches die Göttin Artemis gesandt hat und das ihr willkommner ist als
die Jungfrau, deren edles Blut den Altar nicht besudeln sollte. Die Göttin
ist versöhnt, gibt unsern Schiffen fröhliche Fahrt und verspricht
uns die Erstürmung Trojas. Seid guten Muts, ihr Seegefährten, denn
noch an diesem Tage verlassen wir die Bucht von Aulis!« So sprach er
und sah zu, wie das Opfertier allmählich vom Feuer verkohlt ward. Als
der letzte Funke erloschen war, unterbrach die Stille der Luft ein Sausen
des Windes, die Blicke des Heeres kehrten sich nach dem Hafen und sahen hier
die Schiffe im bewegten Meere schwanken. Mit lautem Jubelrufe ward aus dem
heiligen Haine aufgebrochen, und alles Volk eilte nach den Zelten.
Als Agamemnon in dem seinigen ankam, fand er seine Gattin Klytämnestra
nicht mehr dort; ihr treuer Diener war ihm vorausgeeilt und hatte die ohnmächtig
auf dem Boden Liegende mit der Nachricht von der Rettung ihrer Tochter erweckt
und aufgerichtet. Mit einem flüchtigen Gefühl des Dankes und der
Freude erhob die zur Besinnung gekommene Königin ihre Hände gen
Himmel, dann aber rief sie mit bitterem Schmerze: »Mein Kind ist mir
doch geraubt! Er ist doch der Mörder meiner Mutterfreude! Laß
uns eilen, daß meine Augen den Kindesmörder nicht schauen!«
Der Diener eilte, den Wagen und das Gefolge zu bestellen, und als Agamemnon
von dem Opferfeste zurückkam, war seine Gemahlin schon fern auf dem Wege
nach Mykene.
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